Engel vorm östlichen Fenster, 1991, Öl auf Holz, 50 x 70 cm

ein requiem

Das Bild nehme ich eines Morgens als Vision beim Aufwachen mit in diese Welt. Es entsteht nicht prozesshaft beim Erschaffen, sondern steht fertig vor meinem geistigen Auge:

Ein ätherisches Abbild meiner Selbst steht frontal in einem imaginären Raum, der durch Wände, Boden und einer wolkenverhangenen Zimmerdecke in Blau angedeutet wird. Kopf und Oberkörper sind kontrastreich und konturiert und heben sich so vom Hintergrund ab. Der Unterleib fließt in den (kosmischen) Raum. Der Blick ist nach Osten gewendet zu einem Fenster auf der rechten Seite, das vier helle rechteckige Flächen an die hintere Wand wirft, in deren Mitte ausgespart ein großes Kreuz entsteht von der kreuzförmigen Unterteilung des Fensterrahmens.

Ich bin nackt und ohne Behaarung. Der Körper ist bleich. Er wird von einer unbekannten Lichtquelle außerhalb des Bildes angestrahlt, die auch die rechte Zimmerecke erhellt. Kopf und Rumpf haben weinrote Schattierungen, die zugleich den wärmsten Teil des Bildes darstellen; bei den Beinen verlaufen die Schattierungen ins Violette, bei den Füßen ins Blaue, wo sie mit dem Boden farblich verfließen. In meiner rechten Hand halte ich eine lange Papierschere, die leicht geöffnet ist. Die linke Hand umfasst eine grüne Schlange, die zugleich eine Nabelschnur darstellt, erkennbar an der Wunde des Bauchnabels. Aus dem Nabel fließt etwas Blut. Kopf und Blick sind dem Fenster zugewandt, dorthin strecke ich meinen linken Arm, der angewinkelt bleibt. An der linken Wand schwebt geisterhaft ein grüner Schatten, der versucht, mich mit dem gestreckten linken Arm zu berühren.

Während der Zeit, in der ich an dem Bild male, höre ich das Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart, was zu dem Bildtitel geführt hat. Seit Ende 2018 weiß ich, dass ich ein alleingeborener Zwilling bin. Seitdem hat das Gemälde eine neue Bedeutung und die Symbolik der Durchtrennung der Nabelschnur bekommt erst ihren Sinn. Dasselbe gilt für den grünen Schatten als Doppelgänger und zweites Ich.

Anders als beim bekannten Wanderer am Weltenrand des Flammarion, der links seinen Kopf aus dem Himmelszelt in eine himmliche Atmosphäre steckt, steht das Bildnis in der Anderswelt und schaut rechtsgewandt zum Fenster, das zwei Welten trennt.